Richard_SipeRichard Sipe ist ein weltweit anerkannter Experte im Bereich des Kindsmissbrauchs durch katholische Geistliche. Hier beantwortet er 21 Fragen von AHA Lëtzebuerg (Allianz von Humanisten, Atheisten und Agnostikern Luxemburg).

Richard Sipe: das Interview [18.01.2011]
(aus dem Englischen übersetzt von V. Wammer – Original Version als Download weiter unten verfügbar)

AHA: Ihr persönlicher Werdegang: Vom Benediktinermönch zum weltweit anerkannten Experten für Kindsmissbrauch durch katholische Geistliche; können Sie uns ein bisschen von sich selbst erzählen?

Richard Sipe: Ich bin 78 Jahre alt. Im Jahre 1946 trat ich im Alter von 13 einer Benediktiner-Klosterschule bei und ging durch Mönchsgelübde, Hochschulabschluss und theologisches Seminar (in Rom und Minnesota) bis zur priesterlichen Ordination im Jahre 1959. Nach einer fünfjährigen Aufgabe als Hochschullehrer / Berater und Pfarrei-Priester wurde ich zu einer speziellen Ausbildung aufgefordert, um mich um Belange geistiger Gesundheit von römisch-katholischen Priestern und Ordensleuten zu kümmern. Die nächsten sechs Jahre Ausbildung (Menninger Foundation, Kansas und Seton Psychiatric Institute, Maryland) konzentrierten sich auf psychologische Aspekte der menschlichen Entwicklung und geistige Krankheiten. Seton Hospital war seit 1923 ein Zentrum mit wichtigen Ressourcen für die Beratung und Behandlung von mental gestörten katholischen Geistlichen. Das psychiatrische und psychologische Personal hatte große Erfahrung mit psychischer und sexueller Entwicklung und ihren Abweichungen bei katholischen Geistlichen. In 1960 begann ich Daten über zölibatäre und sexuelle Verhaltensweisen und Praktiken der Priester zu sammeln; das entwickelte sich schließlich zu einer ethnologischen Studie, die 1985 abgeschlossen wurde. Die Ergebnisse wurden 1990 veröffentlicht. Sie beschreiben den religiösen Zölibat und das Ausmaß seiner Missachtung durch Priester. 1970 beantragte und erhielt ich die Dispens von meinen Gelübden, heiratete, und gründete eine private Praxis für Psychotherapie, lehrte an führenden katholischen Seminaren (eines davon päpstlich), katholischen Hochschulen und medizinischen Schulen.

AHA: Sexueller Missbrauch von Minderjährigen: Seit wann besteht das Problem überhaupt innerhalb der katholischen Kirche?

Richard Sipe: Die sexuelle Verbindung Erwachsener mit Kindern – speziell Inzest – ist sehr alt. Historische Berichte seit der Gründung der Kirche belegen sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Priester. Am besten bekannt sind die Schriften von St. Peter Damian (1007-72) über den Zölibat; sein Brief von 1049 an Papst Leo IX. ist eine ausdrückliche Offenlegung priesterlichen Missbrauchs von Minderjährigen, insbesondere Knaben. Eine priesterliche sexuelle Vergewaltigung ist eine zweifache Vergewaltigung; ein Verrat am zölibatären Versprechen und ein zerstörerischer Missbrauch der Autorität im Amt. Peter Damian verglich es mit „spirituellem Inzest.“

Mit zwei Kollegen (Doyle und Wall) veröffentlichte ich 2006 eine Zusammenstellung der Geschichte priesterlichen Missbrauchs unter dem Titel Sex, Priester und geheime Regeln: Die Papierspur sexuellen Missbrauchs der katholischen Kirche in 2000 Jahren (Originaltitel: Sex, Priests and Secret Codes: The Catholic Church’s 2000 Year Paper Trail of Sexual Abuse).

AHA: Können Sie kurz auf Ihre konkreten wissenschaftlichen Studien zum sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen eingehen? Wie ist die Situation, wie viel Prozent der katholischen Geistlichen machen sich dieser Vergehen schuldig?

Richard Sipe: 1985, zum Abschluss meiner ethnologischen Studie des Zölibats, stellte ich fest, dass zu keiner Zeit mehr als die Hälfte katholischer Geistlicher im Zölibat tatsächlich sexuelle Abstinenz praktizierten. (Diese Angabe wurde 1993 von Kardinal José Sanchez, Sekretär der Glaubenskongregation in Rom, nicht verworfen.) Zusätzlich ergaben die Daten, dass 6% der Priester sexuell mit Minderjährigen verkehren. In 2004 ergab eine statistische Studie im Auftrag der amerikanischen Bischöfe, die auch eigene Aufzeichnungen verwendeten, dass zu dieser Zeit 6,5% der Priester wegen Missbrauchs Minderjähriger gemeldet waren. Gegenwärtig sind 6.500 amerikanische Geistliche wegen Missbrauch gemeldet. Die verlässlichsten Schätzungen über Missbrauch durch katholische Geistliche in den USA liegen jetzt zwischen 6% und 9%, mit vielen Diözesen, die 10% belegen. Die Erzdiözese Los Angeles hat 11,5% missbrauchender Priester in den Rängen der aktiven Geistlichkeit.

AHA: Welche Ursachen sehen Sie für den hohen Prozentsatz an katholischen Geistlichen, die sich an Minderjährigen vergreifen?

Richard Sipe: Es kann mit vernünftiger Sicherheit festgestellt werden, dass unter katholischen Priestern ein höherer Anteil Minderjährige missbraucht als unter Gruppen von Männern mit vergleichbarem Alter, Bildung und Beruf (Einkommen). Viele Gründe können für diese besondere Abweichung in einer Gruppe von Männern verantwortlich sein, die öffentlich als sexuell sicher dargestellt werden – die klerikale Kultur ist ein Hafen für unterentwickelte und psychosexuell fehl entwickelte Männer: a) Die klerikale Kultur verlangt völlige lebenslange sexuelle Abstinenz und Gehorsam von jedem zum Priester geweihten Mann; b) der Zölibat wird als Mittel zur institutionellen Kontrolle aufrecht erhalten; c) das Priesteramt schließt Frauen aus und etabliert so eine homosoziale Gesellschaft; d) wirksames Training zum Zölibat ist in Priesterseminaren und religiösen Häusern ungenügend oder gar nicht vorhanden; e) der Zölibat wird nicht von Oberen – Bischöfen, Rektoren, Beichtvätern etc. – entsprechend vorgelebt, was eine Dissonanz zwischen Doktrin und Praxis erzeugt, was wiederum eine Entwicklung soziopathischer Atmosphäre begünstigt; f) die klerikale Kultur bewirbt, erzieht, fördert und beschützt psychosexuell unreife Männer.

AHA: Kann man eine direkte Verbindung ziehen zwischen dem katholischen Glauben an sich und diesen Verbrechen?

Richard Sipe: Es gibt einige direkte Verbindungen zwischen katholischer Lehre und den Verbrechen des Missbrauchs: Erstens die wissenschaftlich unbegründeten und verzerrten Lehren über die menschliche sexuelle Entwicklung und Natur, die der Vatikan als nicht vereinbar mit der Vernunft ausgibt. Ein großer Teil der Priester und eine beträchtliche Anzahl der Laien-Katholiken können die moralische Folgerung daraus nicht anerkennen. Die Behauptung, dass jegliche sexuelle Aktivität außerhalb einer legitimen Ehe eine Todsünde ist, ist so unvernünftig wie die Behauptung, dass die Sonne um die Erde kreist. Die Idee, dass die katholische Kirche die wesentliche Natur von Sex kennt und definiert, ist nicht korrekt. Vor Jahren hat ein Theologe an der St. Louis University die Verstrickung von Themen, die das Programm der katholischen Kirche behindern, und von produktiver Leitung und glaubwürdiger Aktion abhalten, identifiziert. Sie haben alle mit Sex zu tun: Abtreibung, Verhütung, Masturbation, vorehelicher Sex oder Sex nach Scheidung, Homosexualität, künstliche Befruchtung, Zölibats-Zwang für Priesterweihe, Ordination von Frauen und verheiratete Priesterschaft. All diese Themen sollten für Diskussion und Debatte offen sein. Eine Verweigerung des Dialogs über die Realität menschlicher Sexualität bringt katholische Priester in die unhaltbare Position, etwas zu lehren, was sie nicht leben, glauben oder verteidigen können. Dieses System der Lehre lässt den Klerus unreif und verletzlich. Auf praktischer Ebene werden manche dieser verletzlichen unreifen Kleriker anfälliger für unvernünftige Quellen ihrer sexuellen Befriedigung. Auch trägt das Beichtgeheimnis dazu bei, Übergriffe zu verheimlichen, leichte Absolution zu erlangen, und Wiederholung und Rückfälle zu erleichtern, ohne das Verhalten zu verändern bzw. verbessern.

AHA: Würden Sie sagen, dass die aufgedeckten Fälle von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen nur die Spitze des Eisberges ist?

Richard Sipe: Die genauen Zahlen der Missbrauchsopfer und kirchlichen Täter sind nicht bekannt. Unsere Erfahrung in den USA ist, dass sexueller Missbrauch ein Symptom einer extremen systemischen Abnormität ist. Es ist sehr schwer für Opfer, ihren priesterlichen Täter öffentlich anzuklagen. Die Machtstruktur der Kirche ist extrem widerstandsfähig gegen jegliche Bloßstellung ihrer Verbrechen. Die meisten Opfer klerikalen Missbrauchs brauchen im Durchschnitt 32 Jahre, bevor sie ihren erlittenen Fall melden können. Wir kennen nur einen Teil der tatsächlichen Fälle von Missbrauch und Gewalt durch katholische Geistliche. In Europa zeigt sich jetzt die Spitze des Eisbergs. Wir haben in den USA fast drei Jahrzehnte gebraucht, den Sockel an Fällen zu erfassen, die wir festgestellt haben (6-9%). Missbrauch und sexuelle Aktivität in höheren Rängen der Kirche wurden noch nicht freigelegt. Die sexuelle Aktivität (vergangen oder gegenwärtig) von Bischöfen und Vorgesetzten ist eines der mächtigsten Elemente, das die Vertuschung der Verbrechen ihrer Untergebenen bedingt. Sie müssen selbst keine Kinder missbraucht haben, aber ihre sexuelle Aktivität könnte auffliegen, wenn das Netz der Verheimlichung reißt.

AHA: In wie weit ist der Zölibat schuld am Missbrauchsskandal?

Richard Sipe: Es steht außer Zweifel, dass befohlener Zölibat ein wichtiges Element im Phänomen katholisch-klerikalen Missbrauchs an Minderjährigen ist. Es formt eine Synergie innerhalb einer homosozialen Kultur, die psychosexuelle Unreife und Rückentwicklung unterstützt und belohnt. Emotionale und soziale Abhängigkeit, überbewertete Konformität, ein Hang zur Anmaßung, Überheblichkeit, die Arroganz der absoluten Gewissheit und Immunität gegen Kritik oder persönliche Verantwortung für Fehler sind konstitutive Elemente der katholisch-klerikalen Kultur.  

AHA: Eine persönliche Frage zu diesem Thema: Sie selber waren jahrelang Mönch – fiel es Ihnen schwer, den Zölibat zu leben? Ist das überhaupt natürlich?

Richard Sipe: Religiöser Zölibat ist möglich und wird von 2-10% der Geweihten über lange Perioden praktiziert. Ich, wie viele andere, fand es möglich und lohnend für eine ausgedehnte Zeitspanne. Die Struktur eines geregelten Lebens, Gemeinschaftsrückhalt, befriedigende Arbeit, und eine Routine von Gebet und Meditation – manche dieser Elemente begleiten mich noch in meinem beruflichen und verheirateten Leben – haben den Zölibat für mich relativ leicht gemacht. Es passte mir zu jener Zeit und ich habe viel aus dieser Lebensweise gelernt. Für mich war Gehorsam ein weit größeres Problem. Die Enzyklika Humanae Vitae von 1968 war inakzeptabel, intellektuell wie pastoral.

Manche berufene, sehr engagierte Gelehrte und verantwortungsvolle Männer und Frauen nutzen die Praxis des Zölibats im Dienste anderer. Gandhi bleibt ein deutliches Beispiel. Der Zölibat ist jedoch nicht natürlich. Die kirchliche Lehre berücksichtigt dies und nennt es eine Gabe und eine Gnade. Ich kenne viele aktive Priester, die sagen der Zölibat sei „unmöglich.“ Huxley nannte ihn die „größte sexuelle Perversion.“ Meine Position ist klar: Der Zölibat muss in allen seinen Aspekten frei gewählt und offen diskutiert werden.

AHA: Warum scheint die katholische Kirche trotz der ganzen Probleme und trotz immer lauter werdender Kritik krampfhaft am Zölibat festzuhalten?

Richard Sipe: Es gibt eine lange und solide Tradition des Zölibats in der christlichen Spiritualität – wie auch in anderen Religionen. Die einzige biblische Empfehlung, die wir haben, ist von Paulus, der es als persönliche Wahl und nicht als göttliches Diktat darstellt. Die spirituelle Motivation für den Zölibat verharrt in der Tradition; die befohlene Verordnung des Zölibats für Geistliche ist jedoch auf (administrative und gemeinschaftliche) Kontrolle begründet. Befohlener Zölibat für Geistliche hat nie richtig funktioniert. Die monarchische Struktur der Kirche wird mehr oder weniger zusammenfallen, wenn die Forderung des Zölibats abgeschafft wird. Die Kirche (inklusiv Vatikan) hat eine schier unerschöpfliche Toleranz für Zölibatsverletzung, um diese Macht zu halten. Austretende Priester und öffentlicher Skandal sind der Preis, den die Kirche zahlt, um die Forderung endlos aufrecht zu erhalten. Es ist ein kompliziertes soziales Problem. Geistlicher Zölibat ist le don, der wesentliche soziale Vertrag zwischen katholischer Kirche und ihren Mitgliedern. Der Glaube an sexuelle Reinheit hat der Priesterschaft ihre besondere Macht verliehen.

AHA: Oft wird nur vom Kindermissbrauch selber gesprochen; die Vertuschung wird kaum erwähnt. Dabei hätten viele Fälle von sexuellem Missbrauch wohl verhindert werden können, wenn bei ersten Anzeichen eingegriffen worden wäre. Wie sehen Sie diese Thematik?

Richard Sipe: Es ist keine Frage, dass die Korruption in der katholischen Kirche, wovon der Missbrauch von Minderjährigen eine wichtige Manifestation ist, bis in die Spitzen kirchlicher Strukturen reicht. Dies wird auf drei spezifische Arten begünstigt: Sexuelles Verhalten in allen Variationen bei den höchsten Würdenträgern der Kirche und des Vatikans; die Toleranz gegenüber diesem Verhalten auf jeder Ebene klerikaler Institutionen vom Seminar zum Vatikan; und die Vertuschung sogar krimineller Aktivitäten unter dem Deckmantel von Privileg und spiritueller Vergebung. Die Kirche hat unzähligen Menschen großes Leid zugefügt durch ihren (arroganten und willkürlichen) modus operandi und ihre Unfähigkeit auf irgendeine wirksame Weise einzuschreiten. Dokumente belegen, und werden weiterhin die Forderungen untermauern, die die systematische Operation der Kirche auf jeder Ebene zur Skandalvermeidung konspirativ verhindert hat, um ihre finanziellen Interessen und ihre bella figura über den Schutz von Kindern und Schwachen zu stellen. Europa erlebt die Offenlegung des Musters und der Praxis des katholischen sexuellen Systems, so wie wir es in den USA seit 1985 bis jetzt erlebt haben.

AHA: Gibt es bei der katholischen Kirche gar eine Tradition des Vertuschens, und wenn ja, warum?

Richard Sipe: Historische Dokumente, Archive und Studien enthüllen eine lange Tradition von Geheimhaltung und sogar Verniedlichung sexueller Übergriffe des Klerus. Die Erhaltung des Bildes einer reinen und perfekten Priesterschaft war von vitalem Interesse für die klerikale Machtstruktur. Skandal untergräbt die Steuerung und Glaubwürdigkeit. Die Vermeidung des Skandals, das heißt von Anschuldigungen, Fakten, Eindrücken, die die Reputation der Kirche beschädigen könnten oder Feinden der Kirche die Gelegenheit zum Angriff liefern könnten, war die Priorität des Vatikans, besonders seit der Protestantischen Reformation.

AHA: Haben Sie auch konkrete Informationen über den aktuellen Papst Ratzinger und seine Verstrickungen in den Skandal, vor allem was Vertuschung angeht?

Richard Sipe: Ich habe Berichte in der Presse gelesen, dass Papst Benedikt XVI. es als Erzbischof von München übersah oder ignorierte, und so unterließ, einen Priester, der glaubwürdig des Kindesmissbrauchs angeklagt war, disziplinarisch zu belangen. In Wahrheit vertuschte er das Verbrechen. Während er Präfekt der Glaubenskongregation war (früher das Amt der Inquisition), verweigerte er disziplinarische Maßnahmen bei einem amerikanischen Priester, der nachweislich 200 taube Kinder missbrauchte („zum größeren Wohl der Kirche“). Diese Vorfälle und Dokumente wurden ausgiebig in der Weltpresse verbreitet. Jeder von uns in den Vereinigten Staaten, der mit zivilen oder strafrechtlichen Fällen von Missbrauch durch Priester befasst war, hat die Unterschrift von Ratzinger auf Dokumenten gesehen, die belegen, dass er die Fakten der Missbrauchsvorwürfe kannte. Niemand im Vatikan hat mehr Information über sexuellen Missbrauch durch Priester als Ratzinger (jetzt Papst Benedikt XVI.).

AHA: Papst Ratzinger hat nach langem Hin und Her eine Art Entschuldigung für das Geschehene hervorgebracht. Glauben Sie, dass dies ehrlich gemeint ist?

Richard Sipe: Der Papst hat eine Reihe von Entschuldigungen wegen Priestermissbrauchs gebracht, einige von der Kanzel im Petersdom, andere in privatem Kreis in Gegenwart einiger Opfer. Seine Kommentare wurden über die letzten Jahre etwas persönlicher und emotionsgeladen, besonders nachdem Verbrechen in Irland, Deutschland, den Niederlanden und Belgien öffentlich gemacht wurden. Ich habe keinen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Aber diesen verspäteten Gesten fehlt das Wesen wirklichen Verstehens der systemischen Natur des Problems oder ein Hinweis auf Reform.

AHA: In Luxemburg wurde vor kurzem von der katholischen Kirche eine Hotline für Missbrauchsopfer eingerichtet. Was halten Sie von so etwas, ist dies glaubwürdig?

Richard Sipe: Die Einrichtung einer Hotline für die Meldung von Missbrauchsfällen ist übliche Praxis, wenn Gruppen die öffentliche Dimension des Problems erkennen. Ich habe an Hotlines in den USA und England mitgewirkt (die von Opfern finanziert wurden). Sie können wirkungsvoll einen Anfang machen und furchtsamen Opfern helfen, sich zu öffnen. Der Schlüssel muss die Veröffentlichung, nicht das Verstecken der Existenz und Schwere des Problems sein. Berichte von Hotlines in Deutschland, Österreich, Belgien und den Niederlanden haben kürzlich Aufmerksamkeit erregt über den Umfang des Problems in ihren Regionen.

AHA: Wie sehen Sie die Verstrickungen von vielen Staaten, wie auch Luxemburgs, mit den Religionsgemeinschaften, wenn es um die Aufdeckung von Missbrauchsfällen geht?

Richard Sipe: Ich bedaure, dass ich Luxemburg nie besucht habe und die Verbindungen zwischen Kirche und Staat nicht kenne. Ich bin der Meinung, dass die Kirche nicht über dem rechtmäßigen zivilen Gesetz stehen sollte und die Priesterschaft genau wie jeder Bürger strafrechtlich verfolgt werden soll.

AHA: Etliche katholische Geistliche missbrauchen also Kinder. Leben die anderen Geistlichen, also die Mehrheit, den perfekten Zölibat, wie es von der katholischen Kirche immer wieder dargestellt wird? Bitte gehen Sie hier auf die sexuellen Praktiken der Geistlichen ein.

Richard Sipe: Ich habe bereits auf die Ergebnisse meiner 25-jährigen ethnologischen Studie über Zölibat und Sex bei römisch-katholischen Priestern in den USA hingewiesen. Da sexuelle Bedürfnisse kommen und gehen und in der Intensität und mit der Gelegenheit variieren, kann sexuelle Enthaltsamkeit relativ zeitbegrenzt sein.

Die meisten Priester (90%) sind periodisch enthaltsam. Zu irgendeiner Zeit sind 50% sexuell in vielfältigen Verhaltensweisen aktiv. Masturbation ist generell die am meisten verbreitete und häufigste sexuelle Aktivität bei Priestern und Bischöfen. Aber die Beziehung zu Frauen ist weit verbreitet, entweder gelegentlich oder in auf einander folgenden Affären oder mit einer Partnerin. Sex mit einem männlichen Partner, ähnlich gelegentlich oder periodisch, oder mit häufig wechselnden Partnern oder einem ständigen Partner ist jeweils im Verhalten bei 30% der amerikanischen Priesterschaft festgestellt worden. Viele Geistliche versuchen sexuelle Neugier durch Pornographie zu befriedigen; Internet-Sex ist für manche Priester eine neue und fruchtbare Quelle süchtiger Beschäftigung. Andere abweichende Verhaltensweisen sind bei Priestern ebenfalls bekannt.

AHA: Sie sagen also, dass etwa ein Drittel der katholischen Geistlichen homosexuellen Praktiken nachgeht. Wohl doch ein krasser Widerspruch mit der offiziellen Position der katholischen Kirche und ihrer Ablehnung der Homosexualität. Wie denken Sie darüber?

Richard Sipe: Wiederholte Studien ergeben, dass 30% der katholischen Priester eine homosexuelle Orientierung haben. Informierte Quellen erklären, dass das auch für Bischöfe in den USA gilt. Mehrere gebildete und respektierte Priester behaupten, dass heutzutage 50% der Männer in Seminaren und Noviziaten für diese Kategorie in Frage kommen. Da eine schwule Neigung durch die Bank verbreitet ist, wird die Priesterschaft landläufig als schwuler Beruf angesehen. Das ist ironisch. Die Lehre der katholischen Kirche über Homosexualität ist paradox. Viele Heilige, Päpste und Bischöfe können zur homosexuellen Bevölkerungsgruppe gerechnet werden. Ein Dokument von 1961 aus dem Vatikan besagt, dass schwule Männer nicht als Priesterkandidaten zu Seminaren zugelassen sein sollen. Vor kurzem erließ Rom direktere und umfassendere Verordnungen, um schwulen Männern den Zugang zur Ordination zu erschweren. Die derzeitige Position des Vatikans zu Schwulen wurde 1986 von Kardinal Ratzingers Amt (Glaubenskongregation) artikuliert: Homosexuelle Orientierung ist eine mehr oder weniger starke Tendenz zu einem inhärenten moralischen Übel; daher muss die Neigung selbst als objektive Störung angesehen werden. Diese Lehre ist so wenig gerechtfertigt wie der offensichtliche Widerspruch zwischen Theorie und Realität.

AHA: Wie sehen Sie generell die Haltung der katholischen Kirche zum Sex, in Theorie und Praxis?

Richard Sipe: Die Kirche ist an der „Kopernikanischen Wende“ in Bezug auf menschliche Sexualität. Das vatikanische Verständnis der menschlichen sexuellen Natur, Entwicklung, Verhalten und Identität ist inakzeptabel und ungenau. Dialog und Neueinschätzung in Sexualfragen müssen eine Verschiebung berücksichtigen, die der heliozentrischen Debatte des 17. Jahrhunderts gleichkommt. Die Messinstrumente sind weniger einheitlich, aber gleichermaßen komplexe Fragen stehen auf dem Spiel, die für die Entwicklung des Lebens auf dem Planeten von vitaler Bedeutung sind.

AHA: Momentan gab es viel Gerede um den Missbrauchsskandal: es gab Hotlines für Opfer (wie in Luxemburg oder Österreich), offizielle Ermittlungen, den einen oder anderen Rücktritt von hohen Geistlichen, gar eine halbherzige Entschuldigung des Papstes. Könnte man nicht doch annehmen, die Situation sei dabei, sich zu verbessern?

Richard Sipe: Die Wahrnehmung und Publikation des Problems sexuellen Missbrauchs durch Priester, und Muster und Praxis von kirchlichen Amtsträgern, die Verbrechen zu leugnen, zu verniedlichen und zu vertuschen, bringt einige Reaktionen und Versuche hervor, mit der Realität der Krise umzugehen. Obwohl gute Dinge in Entwicklung sind, dürfen wir uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wurzeln des Problems und notwendige Reformen noch nicht einmal an die Oberfläche gekommen sind. Nicht ein einziger amerikanischer Bischof hat seine Hand für wirksame Reformen erhoben, nach 25-jähriger Offenlegung des Problems. Alle Initiativen, die Krise zu bekämpfen, kamen von laizistischen Urhebern und Bewegungen. Die Kirche blieb reaktiv und defensiv. Ich glaube, wir sind in einer Ära der Kirchenreform, ähnlich der Protestantischen Reformation. Die Kampflinien sind nicht konfessionell oder geografisch festgelegt – sie sind zwischen Vernunft und Angst; Verantwortung und Leitung.

AHA: Wenn es das Problem, wie eingangs erwähnt, schon fast seit dem Bestehen der katholischen Kirche gibt, wie sehen Sie dann die Chancen, dass die katholische Kirche es real schaffen wird, das Problem intern zu bereinigen?

Richard Sipe: Ja, es gibt Hoffnung auf Fortschritt in Gesinnung und Verhalten. Die Kirche ist eine Institution in Evolution. Religionen müssen wachsen, sich anpassen, sich entwickeln oder sterben. Der interne Streit in diesem Prozess war nie einfach oder ohne Verletzungen und Narben. Die römisch-katholische Kirche ist eine ecclesia semper reformanda - sie ist in Entwicklung. Die menschliche Sexualität steht im Mittelpunkt der Herausforderung katholischer Reformation.

AHA: Was muss sich Ihrer Meinung nach in der katholischen Kirche ändern?

Richard Sipe: Meiner Meinung nach muss sich die Kirche jedem Aspekt menschlicher Sexualität stellen, offen und ehrlich – und diskutieren, nicht verkünden. Wahrheit ist die Antwort. Jede Kirche, die die Wahrheit über sich selbst nicht sagen kann, hat nichts zu sagen.

AHA: Richard Sipe, herzlichen Dank für das Interview, und viel Glück bei ihrer weiteren Arbeit.

 

 

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AHA-Interview_Richard_Sipe_18012011.pdf
(Original Text des Interviews 🇬🇧)